Die Wiederentdeckung der Bibliothek

Ich habe die Bibliothek für mich wiederentdeckt. Nachdem ich viele Jahre diverse (Uni-)Bibliotheken sehr intensiv genutzt habe, war irgendwie für einige Jahre Pause. In der Zeit habe ich sehr viele Bücher gekauft, größtenteils als Print, teilweise als eBooks.

Vor einigen Monaten war ich dann mal wieder in der Stadtbücherei Münster, um für Kind 1.0 und mich Ausweise machen zu lassen. Kind 1.0 liest sehr gerne und hat die kleine Gemeinde-Bücherei bei uns im Dorf quasi durchgelesen. Es wurde also Zeit für mehr Auswahl.

Seitdem sind wir mehrfach zusammen in der Bib gewesen und haben dort teils Stunden verbracht. Kind 1.0 sucht durch die Regale, schnappt sich ein interessantes Buch und verschwindet in irgendeiner Sitzecke. Ich habe schon eine ganze Reihe Bücher ausgeliehen, die ich mir vermutlich eher nicht selbst gekauft hätte, nun aber einfach lesen konnte. Und vor allem: Die Bibliothek schafft einen tollen Rahmen. Auch wenn es in der Stadtbücherei immer ein bisschen wuselig ist und die gute Laune in der Kinderabteilung im Keller manchmal durch durchs ganze Haus zu hören ist, finde ich den Ort einfach gut. Es ist so eine lese-produktive Atmosphäre dort. Zuhause komme ich manchmal durch das ganze Gewusel mit den Kids gar nicht dazu, in Ruhe ein Buch in die Hand zu nehmen. Manchmal sitze ich jetzt also für 2 Stunden in der Bibliothek und lese einfach schon mal in ein Buch rein, was ich dann oft auch ausleihe. Die weitgehende ablenkungsfreie Atmosphäre ist sehr angenehm und entspannend.

Und was ich alles schon für schräge Bücher und Themen entdeckt habe beim Durchklicken des Katalogs, aber vor allem bei dem Regale auch mal nebenan durchschauen. Toll!

Die kulturellen und sozialen (und damit auch politischen) Dimensionen einer Bibliothek will ich hier gar nicht detaillierter aufmachen – zweifellos tragen sie wesentlich zur kulturellen Teilhabe, zur Selbstermächtigung durch Wissensvermittlung und zur Entdeckung und Entwicklung ganz neuer persönlicher Interessen und Fähigkeiten der Besucher*innen bei. Und die dort verorteten programmatischen Bausteine (Workshops, Lesungen, etc.) sind in aller Regel im besten Sinne Kultur für alle. Die Bedeutung einer Bibliothek kann gar nicht genug geschätzt werden – gerade dort, wo das Netz aus kultureller Infrastruktur und „Bildungsoptionen“ eher dünn ist. Oft also auf dem Land. Nicht umsonst sind eine Reihe Bibliotheken im Programm „Dritte Orte“ des Landes NRW in der Förderung.

Anekdotische Evidenz für meine neu erwachte Bibliotheksbegeisterung liefert auch die sehr gute Band Superpunk. Superpunk (bzw. Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen als Nachfolgeprojekt) haben für praktisch jede Lebenslage ein passendes Lied auf Lager. So auch hier.

“Ein leichter Muff aber erhabene Stille
Und niemand lacht über die neue Brille
Der beste Ort, an dem ich je gewesen
Gut geheizt und immer was zu lesen
Willst du das System durchschauen
Oder einfach nur ein Flugzeug bauen

Ich lieb die Bibliothek

(…)

Willst Du dich amüsieren
Oder willst Du den Verstand verlieren
Die Bibliothek öffnet jede Tür
Befriedigung gegen geringe Gebühr
Samstags geöffnet bis um vier
Wenn Du mich willst, findest Du mich hier”

Mein Social Media-Exit

Ich habe letztes Jahr meine Social Media-Accounts zunächst temporär deaktiviert, weil mir das alles zu viel wurde. Facebook habe ich sowieso schon lange nicht mehr aktiv genutzt, sondern nur noch zum (sehr unregelmäßigen) Pflegen von einigen Facebook-Seiten von Projekten, in denen ich involviert war. Eine echte Usability-Katastrophe – aber das ist ein anderes Thema. Instagram hingegen war ein echter Zeitfresser. Ich bin sehr vielen Accounts gefolgt und habe an manchen (ok, vielen) Tagen deutlich mehr Zeit in der Timeline verbracht, als mir gut tat. Gleichzeitig war das natürlich ein schneller und ziemlich direkter Zugang zu vielen Artists, deren Aktivitäten ich im Auge behalten möchte.

Also habe ich im August 2023 alle Accounts deaktiviert. Und siehe da: Ein paar Tage aber ich noch quasi reflexhaft die Insta-App geklickt und gleich wieder zugemacht. Nach wenigen Tagen hatte ich auch nicht mehr das Gefühl, irgendwas zu verpassen und ab da war es eine echte Befreiung. Nicht mehr ständig Up-to-date-sein müssen ist toll. Die verschiedenen Hypes, die tagtäglich durch die sozialen Medien ziehen, sind eigentlich auch total egal. Wichtige Nachrichten hab ich über klassische Nachrichtenkanäle mitbekommen. Es war toll!

Im Laufe dieses Jahres hab ich meinen Insta-Account dann noch einmal aktiviert, um einigen Musiksachen zu folgen. Und prompt bin ich wieder in die Falle getappt und hab in irgendwelchen Stories rumgescrollt. Also hab ich bei Facebook und Instagram die Löschung der Accounts angetriggert. Meta ist da natürlich geschickt und parkt die Accounts erstmal für 30 Tage (du kannst dich jederzeit wieder anmelden, wenn du es dir anders überlegst – blabla). Dann der große Moment: Nach etwas über einem Monat habe ich testweise versucht, mich wieder einzuloggen – klappt nicht mehr, Meta hat tatsächlich meine Accounts gelöscht. Hurra, ich bin frei!

Was ändert sich nun an meinem Informationskonsumverhalten? Das Verfolgen von einzelnen Bands und Musiker*innen reduziert sich zwangsläufig auf andere Kanäle, die in der Regel deutlich weniger frequentiert sind. So folge ich zahlreichen Künstler*innen auf Bandcamp (wo ich auch viel Musik digital kaufe) und habe diverse Newsletter abonniert – teils kuratierte Musiknews, teils direkt von den Künstler*innen geschrieben.

Inhaltlich bekomme ich deswegen eher mit, wenn Künstler*innen neue Musik veröffentlichen und weniger, wenn sie irgendwelchen Quatsch posten, um ihre Reichweite zu füttern. Also eigentlich: Das Wesentliche kommt an, das Beiwerk eher nicht. (In diesem Zusammenhang empfehle ich allen Musiker*innen diesen Beitrag von Cassidy Frost: Social Media Neutered Your Music.)

Außerdem folge in letzter Zeit vermehrt Menschen auf Substack. Vor allem Menschen, die sich mit Musik beschäftigen. Und zwar aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: Von Vorstellungen unbekannter Bands bis zu Deepdives in verschiedene Themen zu experimenteller Musik bis zu Musikbusinesskram. Substack hat neben den regulären Posts auch die sogenannten Notes. Das ist ein bisschen wir Mastodon – quasi ein Kurznachrichtendienst. In meiner Substack-Timeline tauchen da aber bisher nur sinnvolle Beiträge auf und keine Werbung (außer für Substack selbst). Das ist bisher alles sehr angenehm und ich hab über Substack schon tolle Musiksachen entdeckt.

Ein kleiner Anteil soziale Medien bleibt also.
Und natürlich ganz echte soziale Kontakte. <3

August 2024: Neue Musik entdecken?

In einer Runde mit musikbegeisterten Menschen kam gestern die Frage auf, auf welche Wegen wir aktuell neue Musik entdecken. Spannend zu sehen, wie unterschiedlich da die Zugänge sind. Manche sind da primär in den Sozialen Medien unterwegs, andere gar nicht (wie ich inzwischen). Ich frage mich, ob das (auch) eine Altersfrage ist?

Hier mal meine aktuellen Infoquellen für neue Musik. „Neue Musik“ as in: Musik von Künstler*innen, die mir komplett neu sind oder neue Musik von Künstler*innen, die ich bereits auf dem Schirm habe.

Bandcamp: Hier folge ich vielen Acts und bekomme Notifications per Mail, wenn es neue Releases gibt. Gelegentlich lese ich auch im Bandcamp-Blog Artikel zu bestimmten Themen/Genres. Die Bandcamp-Empfehlungsmails lese ich nur noch manchmal, da war auch oft viel Quatsch dabei – immer wieder aber auch echte Entdeckungen.

Spotify: Hier schau ich jede Woche ins Release Radar. Mittlerweile hab ich den Algorithmus soweit trainiert, dass tatsächlich oft relevante Dinge aufpoppen. Meist aber nur so die ersten 10-15 Tracks in der Liste, danach wirds dann oft unspannend. Manchmal taugt die Liste aber auch gar nicht. Diese „ähnliche Acts-Funktion“ (heißt das so?) oder „Künstler*innen-Radios“ nutze ich praktisch gar nicht.

Newsletter: Ich lese diverse Mailnewsletter zu Musikthemen und finde dort immer wieder interessante Dinge. Dabei sind sowohl kuratierte Newsletter als auch z.B. welche von Labels.

Blogs/Substack: Ich lese unregelmäßig verschiedene Musikblogs und neuerdings auch einige Substack-Kanäle. Gerade letzteres als quasi-Alternative zu selbsthosteten Blogs hat sich als gewinnbringend herausgestellt. Hier finde ich immer mal wieder spannende Deepdives in bestimmte Themen, Genres, Künstler*innen.

Musikpresse: Ich habe das MINT-Magazin abonniert und überfliege dort die Rezensionen. Manchmal kaufe ich auch noch irgendwelche (Punk-)Fanzines, z.B. das Drachenmädchen. Hier gibt es aber nicht mehr so viel zu entdecken, wie früher mal. Ich glaube, die Zeit der Rezensionen in solchen Zines ist irgendwie vorbei – da ist das Netz einfach schneller.

Bücher: Ich lese relativ viel Bücher zu verschiedenen Musikthemen und nerde mich dann gerne in Dinge rein. Also parallel zum Buch Musik entdecken und hören. Das sind dann aber eher keine tagesaktuellen neuen Dinge. Da sind natürlich Spotify und Bandcamp oft hilfreich, um Musik einfach zu finden.

Radio: Früher habe ich sehr viel Radio gehört, heute weniger intensiv. Kein Formatradio (unerträglich), eher Onlinekanäle. Oder WDR 3/5 in den Kulturformaten und Deutschlandfunk Kultur.

Persönliche Empfehlungen: Nicht zu vergessen sind natürlich noch die persönliche Empfehlungen von Freund*innen. Die bleiben natürlich neben allen „eigenen“ Kanälen von unschätzbarem Wert.

Und ihr so?

Studie: Die Proberaumsituation in Münster 2023

Nachdem das Team von muensterbandnetz.de in Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt Münster bereits 2013/2014 eine Studie zur den infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Musikszene in Münster durchgeführt hat, wurde 2023 erneut die Proberaumsituation untersucht. Auch dieses mal war ich als Teil des mbn-Teams involviert und dokumentiere die Ergebnisse deshalb auch auf dieser Seite.

Info von der mbn-Seite dazu:

Ausgangspunkt der ersten Erhebung 2013/2014 war die häufig von Musiker*innen und Bands an das Team herangetragene Beobachtung, dass es an Proberäumen in Münster fehle. Dies hat die damalige Umfrage auch bestätigt: Es gab insgesamt zu wenig Räume, oft unsichere Nutzungsperspektiven und häufig auch Räume in schlechtem Zustand und/oder mit mangelhafter Ausstattung.
 
10 Jahre später stellt sich die Proberaumsituation im Kern nicht viel anders dar. Die Umfrage zeigt ähnliche grundlegende Problemlagen auf:

  • Die Nachfrage nach Proberäumen ist deutlich größer als das Angebot.
  • Die Höhe der Mietpreise entspricht oftmals nicht der Qualität der Räume.
  • Die Nutzungsperspektiven sind oftmals unklar, es gibt keine Garantien für eine langfristige Nutzung der Räume. Insgesamt besteht eine große Sorge vor einem möglichen Wegfall von Räumen.

Nicht jede Band/Musiker*in in Münster, die gerne in einem Proberaum proben würde, hat einen solchen zur Verfügung. Viele Bands teilen sich Räume, teilweise mit vier oder mehr Bands einen 12qm großen Raum. 

Unser Anliegen ist es nicht nur, für alle Bands qualitativ ausreichende Proberäume zu schaffen, sondern diese auch langfristig zu erhalten. Es gibt einen hohen Bedarf nach Räumen mit langfristiger Nutzungsperspektive, ohne die ständige Sorge haben zu müssen, in den nächsten Monaten mit den Instrumenten auf der Straße zu stehen. 
 
Wir setzen uns dafür ein, vorhandene Strukturen zu stärken und weiterzuentwickeln. Dies kann mit konkreten Maßnahmen wie festen Nutzungsvereinbarungen mit langfristiger Bindung, sowie Instandhaltung und Renovierung von Räumen erreicht werden. Darüber hinaus plädieren wir für eine gezielte finanzielle Förderung zur Ermöglichung günstiger und damit niedrigschwelliger Mieten bzw. Schaffung neuer Proberäume.
 
Die langfristige Möglichkeit zur Nutzung eines Proberaums mit hinreichend guter Ausstattung ist die Basis für ein unbelastetes künstlerisches Schaffen und damit Entwicklungspotenzial der münsteraner Bands und Musiker*innen. Der Proberaum ist die Keimzelle für eine kreative, lebendige und sich professionalisierende Musiklandschaft. Eine gute Proberaumsituation trägt damit unmittelbar zum künstlerischen Output der Stadt bei.
 
muensterbandnetz.de setzt sich daher für die Schaffung entsprechender Proberaumkapazitäten ein. Sinnvoll wäre aus unserer Sicht ein großes Proberaumzentrum in einer kommunal getragenen Immobilie, das mit einem gemeinnützigen Ansatz verwaltet wird und so den Spagat zwischen hoher Qualität der Räume und möglichst niedrigschwelligem Zugang (bezogen auf Mietkosten und Verfügbarkeit) ermöglicht. Denkbar wäre – je nach verfügbaren Ressourcen – hier auch, Raumkapazitäten zu staffeln: Neben günstigen und solide grund-ausgestatteten Räumen v.a. für junge Musiker*innen und Bands könnte es auch Räume mit hochwertigerer Ausstattung (und entsprechend höheren Mieten) für Profis geben.
Zu beobachten ist, dass Amateurbands häufig nicht sehr anspruchsvoll sind, was die Qualität und Ausstattung ihres Proberaums betrifft, hier aber Quantität, zentrale Lage und Verfügbarkeit ganz entscheidende Faktoren sind. Gleichzeitig ist es auch hier natürlich notwendig, Mindeststandards einzuhalten – etwa trockene, schimmelfreie Räume mit stabiler Stromversorgung und ausreichend sicheren Türen, usw. Für professionelle Musiker*innen und Bands ist der Proberaum ein zentraler Arbeitsort – Qualität und Ausstattung bekommen hier ganz andere Bedeutung, während der quantitative Bedarf in Münster in diesem Feld weniger groß ist, als im Bereich der Amateur*innen und Semi-Profis.
 
Beide Bedarfsfelder muss eine zukunftsorientierte Proberaumförderung adressieren, während sie gleichzeitig sicherstellt, dass Fördermaßnahmen auch das angestrebte Ziel erreicht. Eine entsprechende gestaltete öffentliche Förderung (durch Kommune und ggf. Land) würde die Musiklandschaft unmittelbar stärken und langfristige Perspektiven für Münster als nachhaltige Musikstadt eröffnen.

Die Umfrage wurde von Mattis Markmann im Auftrag von und in enger Kooperation mit dem Team von muensterbandnetz.de durchgeführt. Mattis hat die Erhebung zum Gegenstand seiner Abschlussarbeit im Master of Education für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität Münster gemacht. Wir haben uns entschieden, die ganze Arbeit zu veröffentlichen und keinen kondensierten Text – so bekommen die Leser*innen einen umfassenden Einblick in die Methodik und die Ergebnisse.

For Peace. Against War. Who Is not? A Compilation For The People Of Ukraine

Ende Februar begann der Angriffskrieg von Putins Armee gegen die Ukraine. Neben der allgemeinen Fassungslosigkeit und Angst, die akut um sich griff, waren schnell auch Solidaritätsbekundungen in unterschiedlichsten Formen zu beobachten. Aus dem Kulturbereich kamen viele Aktionen, die ein Zeichen gegen den Krieg setzen. Unter anderem sind auf Bandcamp zig verschiedene Sampler erschienen.

Einen besonders bemerkenswerten möchte ich Sampler heute vorstellen und habe mich dafür mich Kai Niggemann unterhalten. Kai lebt in Köln und ist vielfältig aktiver Musiker und Soundartist (https://kainiggemann.com). Zusammen mit Robert Galbraith und Elizabeth Virosa von der Band Snowbeasts (https://snowbeasts.bandcamp.com) und Component Recordings (https://componentrecordings.bandcamp.com) aus Providence, Rhode Island, hat Kai einen monumentalen Sampler mit sage und schreibe 199 (!) Tracks zusammengestellt.

Henk: Hallo Kai! Erzähl doch mal, wie es zu der Aktion kam und wer beteiligt daran ist.
Kai: Hallo Henk. Kurz nach Beginn des Kriegs postete Rob (Robert Galbraith von Snowbeasts/Component Recordings) auf Facebook ein Angebot, dass er für Benefiz-Compilation-Beiträge das Mastering kostenlos übernehmen würde. Ich fragte ihn daraufhin, ob er und Beth (Elizabeth Virosa, ebenfalls Snowbeasts und Component) denn von einer Compilation wisse, oder ob sie einen planen würden. Da wir aber alle drei noch keine passende kannten, haben wir gescherzt, dass wir eine machen könnten. Wir haben dann gemeinsam spontan einen Text geschrieben, ein Platzhalter-Bild gesucht und den Open Call gepostet.

H: Wie war euer Prozess? Wie habt ihr den Sampler kuratiert? Gab es z.B. besondere Kriterien für die Auswahl von Tracks?

K: Nach dem Post kamen quasi sofort Tracks rein. Ich hatte Bedenken, ob wir es schaffen würden, genügend gute Tracks zu finden, die eine Compilation auszeichnen und besonders machen würden. Als uns die ersten 30 Tracks alle gefielen, gerieten wir ins Grübeln und überlegten, wo wir eine Linie ziehen könnten oder müssen. Ich war dann irgendwann richtig froh, als es irgendwann begann mit Tracks, die nicht passten oder bei denen uns beim ersten Hören sofort klar war, dass die nicht für die Compilation geeignet sind. Vorher hatte ich schon an meinem Geschmack gezweifelt, dachte ich wäre zu unkritisch geworden. 

Während die Tracks ankamen, haben wir (vor allem Rob) also probiert, schon zu clustern, d.h. sie stilistisch passend zusammen zu bringen. Wir merkten, dass der Sampler eine ganz schöne Reise werden würde und merkten, dass wir sofort beginnen müssten, alles zu arrangieren, damit am 15.03. (das war schon von Anfang an unser geplantes Release-Datum — nur fünf Tage nach der Deadline!) nicht alles (und alle) zusammenbricht.

Was unglaublich geholfen hat war ein Kommentar auf das Open Call-Posting auf Facebook von Wolfgang Flür (Kraftwerk) am ersten Tag, der schrieb, dass er gern einen Track beisteuern würde. Das hat uns ermöglicht noch mal ganz anders bekanntere Menschen anzusprechen, weil es damit nicht mehr nur eine totale Underground Sache war. 

Am Ende sind Namen dabei, die nicht unbedingt Household-Names sind — aber Stephen Mallinder von Cabaret Voltaire, Cico Beck (Joahsino) ist der Elektroniker von The Notwist, Scanner (Robin Rimbaud), Mia Zabelka, Joan Hacker, Valentin, die ANGEL mit Schneider TM, Ilpo Väisänen von Pan Sonic und Zappi Diermaier von Faust, Nick Didkovsky von Dr. Nerve, der auch bei Alice Cooper spielte, Dead Voices On Air, — um nur einige zu nennen.

Kai Niggemann
(Foto: Nina Gschlößl)

H: Angesichts der Lage in der Ukraine fühle ich mich ziemlich hilflos. Natürlich gibt es viel Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten und Solidaritätsbekundungen für die Ukrainer*innen. Zahlreiche Musiker*innen und Kultureinrichtungen haben Aktionen gestartet. Das ist auch superwichtig. Aber gleichzeitig stoppt das ja leider den Krieg nicht. Kann Kultur überhaupt hierzu einen wirklichen Beitrag leisten?

K: Aus dieser Hilflosigkeit stammte auch der Gedanke, einen Sampler zu machen. Wir wollten mit dem was wir können probieren Geld und Aufmerksamkeit herzustellen. Die Menschen in der Ukraine haben sicherlich gerade anderes zu tun, als einen Sampler anzuhören, aber falls jemand diese Flut von Samplern für Ukraine die es z.B. auf Bandcamp zur Zeit gibt bemerkt, ist es sicherlich auch eine kleine Ermutigung.

Ich glaube es geht ja gerade sehr stark um Kultur. Die russischen Truppen sind sehr offensichtlich darauf aus, ukrainische Kultur zu vernichten. Und da müssen wir als Musiker*innen dringend zumindest unsere Solidarität zeigen und helfen Geld zu sammeln, das die Lage verbessern kann.

Am Ende sind Rob, Beth und ich sehr pazifistisch. Wir waren uns einig, dass wir mit der Compilation keine Waffenkäufe finanzieren wollten. Zwar auch, weil die Summe die bei unserem Projekt rauskommt nur ungefähr für eine verschwindend geringe Anzahl von irgendetwas militärisch relevantem (Westen, Helme, etc.) ausreichen würde, aber vor allem weil wir trotz der großen Not, in der die Ukraine sich befindet, uns nicht mit dem Gedanken an Waffenkäufe anfreunden konnten.

H: Wie ist Resonanz auf die Aktion? Erreicht ihr damit viele Menschen? Eher Blase oder große Reichweite?

K: Die Resonanz ist super. Ich habe genau eine kritische Mail bekommen und die war etwas wirrewachs, also eher nicht ernstzunehmen. Durch Radio und andere Medien ist die Reichweite ziemlich hoch und wächst auch noch. Viele der Musiker*innen haben sich bei ihren lokalen/regionalen Sendern und Medien um Artikel und ähnliches bemüht, es gibt TV-Berichte aus Kanada, Radiosendungen aus Deutschland (Grenzwellen, Elektrobeats, u.a.) und Berichte aus Österreich (SKUG.at, Ö1 vom ORF).

Wir hatten keine Ahnung, dass das so groß werden kann, sonst hätten wir die PR länger geplant und mehr abgestimmt, aber wir wollten keinen langen Vorlauf, damit schnell Geld in die Ukraine fließen konnte.

H: Wie geht es weiter? 

Snowbeasts (Foto: Mandi Martini)

K: Es kommen in naher Zukunft noch einige Radio- und Medienbeiträge. Wir probieren weiter Geld einzusammeln und werden es in regelmäßigen Abständen in die Ukraine überweisen. Ich denke, dass die Künstler*innen auch noch weiter Werbung machen, das Feedback auch von ihnen ist sehr gut.

H: Servicehinweis – am 01.04.2022 ist mal wieder Bandcamp Friday – eine gute Gelegenheit, den Sampler zu klicken und so noch ein bisschen mehr beizutragen, als auf eurer normalen Bandcamp-Shoppingtour.

Hast du besondere Lieblingstracks oder besondere Anspieltipps, Kai?

Oh ja. Natürlich empfehle ich die Namen die man eventuell kennt mal anzuhören, da sind schon viele gute Tracks bei. Wolfgang Flürs Einstiegstitel »Say No« frisst sich mit jedem Hören tiefer rein, ich finde den sehr gut und freue mich unfassbar, dass der auf der Compilation vertreten ist.

Meine Top Five der Namen, die einen nicht sofort anspringen, sind zwar nicht fest, aber gute Beispiele sind diese:

Valentin: »Digital Hugs« — Es ist so schön warm. Beginnt wie ein relativ ‘normaler’ Techno-Track, bekommt dann aber eine Tiefe mit der wunderbaren Stimme auf deutsch und Englisch.

Joan Hacker: »I Am Alive« — Macht trotz der statischen Anmutung eine ganz schöne Reise, ein beeindruckend emotionaler Drone-Track. Ein sehr persönlicher Track, bei dem die 15 Minuten wichtig sind.

Yan Jun: »Folk Song« — Ein Track aus China. Ich liebe die Wut, den Schmerz, oder die Dringlichkeit, die aus diesem Schrei/Call herauskommt.

Todd Barton: »Seekings« — Todd ist mir ein Lehrer und ein Vorbild. Dieses Stück hat eine dichte Atmosphäre, das können nicht viele Leute mit dem Buchla (der Synthesizer den Todd und ich beide spielen).

Denise Ritter: »Area One« — Ein Stück über die 1980er-Jahre in Deutschland, in der Nähe eines Atomwaffenstützpunkts der Amerikaner. Hits very close to home.

Ein bisschen kommt es darauf an, wonach man sucht. Es gibt Strecken von düsterem Ambient auf dem Album, Death Librarian, Dead Voices on Air, Decomissioned Forests, die Angel, Cunting Daughters … da gibt es viele wunderbare Tracks. Oder die eher Technolastigen: Stephen Mallinder, Valentin, D.U.M.E., Snowbeasts, Harriered… Oder die Klangkunstwelten von Andrea Szigetvári, Korhan Erel, Marc Behrens, Mia Zabelka und Lasse-Marc Riek. Wenn ich die Namen der Compilation herunterscrolle, finde ich immer wieder neue Inspiration was eine neue Liste sein könnte..;)

H: Danke für deine Zeit und die gute Aktion!

K: Vielen Dank für das Interview und das Kompliment. Wir glauben nicht, dass wir damit die Welt verändern können, aber einen kleinen Effekt wird das Projekt doch haben. Unsere Erwartungen wurden jedenfalls klar übertroffen.


Den Sampler könnt ihr direkt auf Bandcamp klicken (am besten am Bandcamp Friday).

Experiment: Newsletter

Heute startet das Experiment Newsletter. Es gibt ja schon länger einen kleinen Telegram-Kanal, über den ich immer mal wieder kleine News an eine Teilmenge Menschen geschickt habe. Nun nervt mich Telegram inzwischen ein bisschen und macht mir ein komisches Gefühl angesichts der vielen Verschwörungsspinner*innen, die ebenfalls den Dienst nutzen.
Dazu kommt, dass ich in den letzten Monaten den klassischen Mailnewsletter für mich wiederentdeckt habe. Individuell kuratierte und persönlich geschriebene Nachrichten, die direkt in meiner Inbox landen? Von supernerdigen Spezialthemen bis zu persönlichen Bewertungen der Weltlage? Find ich irgendwie gut. Möchte ich auch ausprobieren.

Alles in allem: expect heavy delays hat ab heute auch einen Mailnewsletter. Oder vielmehr: Ihr könnt euch ab heute in die Liste eintragen und dann kommt ganz bald bestimmt die erste Ausgabe.

Es wird sicher kein regelmäßig erscheinendes Format werden. Eher so nach Bedarf und Laune. Also nicht 3x/Woche copypaste aus irgendwelchen Pressemitteilungen.

Ich würde mich freuen, wenn ihr mal reinschaut. Und falls ihr Anregungen, Kritik, Themeninput habt: Immer her damit!

Soundarchive (BBC und NASA)

Die BBC hat schon vor einigen Jahren eine umfangreiche Bibliothek mit über 33.000 Soundclips unterschiedlichster Geschmacksrichtungen online gestellt. Das Archiv ist kostenfrei nutzbar für persönliche Verwendung, sowie für Forschungs- oder Unterrichtszwecke. Für kommerzielle/berufliche Nutzungen müssen Lizenzen geklickt werden.

Unterhaltsam ist der auf der Website integrierte Soundmixer, bei dem man eine kleine Soundscapes aus unterschiedlichen Clips bauen kann – super zum ausprobieren, ob Sounds zueinander passen. Praktischerweise können die Clips dort auch gleich heruntergeladen werden.

Auch die NASA hat zahlreiche spannende Sounds online gestellt. Im Soundcloud-Account der Weltraumorganisation findest du neben diversen Podcastreihen auch Sounds, die in den unendlichen Weiten des Weltraums (oder so) aufgenommen wurden.

Schön ist z.B. die Playlist “Insight Lander Sounds of Mars”:

Sounds of the Forest

Sounds of the Forest ist ein Soundmappingprojekt und Teil des Festivals “Timber – The International Forest Festival”. Das Festival findet in Feanedock (UK) statt und wird organisiert von Wild Rumpus und The National Forest und beschäftigt sich mit Wäldern und ihren Veränderungen.

We are collecting the sounds of woodlands and forests from all around the world, creating a growing soundmap bringing together aural tones and textures from the world’s woodlands.

The sounds form an open source library, to be used by anyone to listen to and create from. Selected artists will be responding to the sounds that are gathered, creating music, audio, artwork or something else incredible, to be presented at Timber Festival 2021.

http://timberfestival.org.uk/soundsoftheforest-soundmap/

Auf der Soundmap sammelt das Projekt Soundsamples aus Wäldern auf der ganzen Welt. Diese dienen dann als Material für Projekte von verschiedenen Künstler*innen, die dann wiederum auf dem Timber-Festival präsentiert werden.

Zur Soundmap beitragen kann jede*r – einfach Sounds im Wald eurer Wahl aufnehmen und hochladen. Alle Infos findet ihr auf der Website zum Projekt.

Links:
Soundmap
Sounds beitragen
Festivalwebsite

Divide and Dissolve – Gas Lit

Das Duo Divide and Dissolve hat just sein drittes Album Gas Lit veröffentlicht.

Takiaya Reed (Saxophon, Gitarre, Liveeffekte) und Sylvie Nehill (Drums, Liveeffekte) kommen aus Melbourne und bewegen sich musikalisch irgendwo zwischen A Silver Mt. Zion und Sunn O))).

Das Album beginnt mit sphärischen Sounds, die von einer doomigen Wand aus schweren Gitarren und Drums abgelöst werden. Damit ist das musikalische Spektrum der Platte schon grob skizziert – ohne dass es im weiteren Verlauf je langweilig wird. Bemerkenswert ist, dass es der Band gelingt, gleichzeitig tonnenschwer und trotzdem irgendwie schwebend zu klingen. Anders als bei beispielsweise Sunn O))) habe ich zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass mich die Musik erschlägt. Bis auf einige Spoken Word-Schnipsel bleibt das Album instrumental, trotzdem gelingt es der Musik durchaus, die Message der Band zu transportieren. Dazu schreiben sie auf Bandcamp:

Gas Lit is our fight for Indigenous Sovereignty, Black and Indigenous Liberation, Water, Earth, and Indigenous land given back. Gas Lit is fighting against the dispossession of our people, land, water, and spirit. Gas Lit is a call to transformation and freedom. Gas Lit seeks to make a contribution to undermining and destroying the white supremacist colonial framework.

Ich hoffe, dass ich irgendwann die Gelegenheit haben werde, Divide and Dissolve live zu sehen – wenn es der Band gelingt, den mächtigen Sound der Platte auf die Bühne zu bringen, dürfte das ein sehr guter Abend werden.

Erschienen digital bei Bandcamp, sowie als Vinyl und CD bei Invada Records.

Links:
Website
Instagram
Facebook
Bandcamp
Gas Lit bei Invada Records

The Outlaw Ocean Music Project: Robot Koch – Albatross

The Outlaw Ocean Music Project ist ein Projekt an der Schnittstelle von Journalismus und (experimenteller) Musik.

Das ganze Projekt basiert auf dem Buch The Outlaw Ocean von Ian Urbina, der als Investigativreporter unter anderem für die New York Times gearbeitet hat. Urbina hat sich jahrelang mit unterschiedlichen Formen von Gesetzlosigkeit und Vergehen auf den Meeren der Welt beschäftigt und dabei auch ein umfangreiches Archiv an Fieldrecordings aufgebaut.

Zahlreiche Musiker*innen aus aller Welt haben sich der Soundschnipsel angenommen und Musik damit gebaut. Von Ambient über Electronica bis HipHop und Neoklassik sind zahlreiche (inzwischen weit über 200!) spannende Releases entstanden, die digital verfügbar sind. Urbina sieht das Projekt als eine Form von alternativem Storytelling – das trifft die Sache ziemlich gut.

Besonders hervorheben möchte ich die tolle EP Albatross von Robot Koch, die ihr hier auf Bandcamp findet:

Hier noch ein Video, in dem Ian Urbina selbst das Projekt erläutert:

Projektwebsite
Bandcamp